
SCHWERKRAFT
TanzTheater von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart
Einige Tänzerinnen und Tänzer scheinen die Schwerkraft überwinden zu können, sie schweben. Wie gesagt, einige scheinen es zu können, andere träumen nur davon. Wie ist es aber, während einer Aufführung in den Tod zu stürzen? Also - fast schwerelos - den Kontakt zum Boden zu verlieren, zunächst?
Uraufführung im Rahmen der Reihe "Stadtstreicher - urbanale Räume", in der bodytalk wichtigen Momenten einer Stadt ein Gesicht gibt. Als ein Amerikaner nach Köln kam, sagte er: "It is in this spirit that I come to Cologne to see the best of the past, and the most promising of the future. May I greet you with the old Rhenish saying Kölle Alaaf." Oder: Wie wirkt hier das einzigartige Schicksal von James Saunders bis heute auf uns?
Von und mit Charlotte Goesaert, Fabio Bello, Hilke Kluth, Katrin Schyns, Konstantin Kutepov, Mack Kubicki, Mimi Jeong, Rainer Kwasi, Marina Schutte, Sylvana Seddig, Thomas Achtner, Nathan und seine Geschwister sowie Zeitzeugen im Film.
SCHWERKRAFT wird gefördert durch das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW und durch das Kulturamt der Stadt Köln.

Presseauswahl
Was soll auf diesen starken Anfang noch folgen?
MELANIE SUCHY, Kölner Stadt-Anzeiger, 16.10.2012

TUMULT UND STILLE
Die Kompanie bodytalk (Yoshiko Waki und Rolf Baumgart) betrachtet mit dem Tanztheaterstück
"Schwerkraft" kritisch die Situation des Tanzes in Köln. Eine provokante, sensible - und nötige
Inszenierung.
Die friedliche Eingangsszene in "Schwerkraft", dem neuen Stück des Choreografen-Duo Yoshiko Waki
und Rolf Baumgart währt nicht lange. Kaum haben sich die sechs Tänzer von den naturhaft-kahlen
Stämmen erhoben, knicken sie auch schon ein, fallen zu Boden. Zum immer heftiger werdenden
Rocksound (Live-Musik: Konstantin Kutepov) widersetzen sie sich mit teils grotesken Sprüngen der
Schwerkraft, fallen zurück in ein zunehmendes Chaos von Sound und Bewegung, kreischen, schreien.
Dann reißen sie sich die Kleider vom Leib, bietet eine Tänzerin dem Publikum die Brust zum Saugen,
werden mit wippendem Penis Ballett-Exercises ausgeführt, zappelt ein Tänzer erstickend unter einer
Plastiktüte, greift sich eine Performerin jauchzend in den Schritt. In rasendem Stakkato fliegen die
Körper zum hämmernden Sound, jagen auf der Suche nach dem Ich sich selber hinterher.
Dazwischen aber legt die Inszenierung immer wieder Stopps ein. Dann lässt Rainer Kwasi,
Schlangenbändiger aus der Uckermark, seine Riesenboas los: Kreaturen, die immer wieder auf den
Boden zurückfallen. Jede Szene ist voll Symbolik auf den Zustand des Tanzes in Köln gerichtet, denn
darum geht es vor allem. Bodenhaltung, Aussaugen, Ersticken, der TEP (Tanzentwicklungsplan) wird
wie Manna, das Himmelsbrot, verteilt.
Waki/Baumgart verfolgen ein metaphorisches Konzept, das mit sinnlichen Aktionen auf den abstrakten
Bereich der Kultur- und Tanzförderung zielt. Schon bald lenken Videos mit kurzen Statements den
Blick auf eine der großen Persönlichkeiten des Tanzes in Köln: James Saunders, langjähriger Solist
des Tanzforum Köln, der 1984 mit anderen die Tanzprojekte Deutz gründete, um den Tanz in die Mitte
der Gesellschaft zu bringen. Was so überdreht von Waki/Baumgart inszeniert wird, wäre nie sein Ding
gewesen. Seine Form waren Sanftheit und Ruhe. Doch dem Inszenierungsprinzip hätte er sicher
zugestimmt.
In fast jeder Szene finden sich Bezüge auf seine Arbeit: das Tuch auf dem Boden, das für Mimi Jeong
zum Kleid wird - wie in Saunders Solo EYE von 1994. Oder der Turm aus Bierkästen, ähnlich dem aus
Saunders "Wanderer - Space like home" von 1995. Und so wieder, in seinen Stücken immer ein
bisschen mehr forderte als möglich schien, so steht in "Schwerkraft" der durchgeknallte Performer
ganz am Rand des obersten Kastens, kurz vor dem Umkippen.Saunders selbst konnte 1996 das
Umkippen nicht verhindern und stürzte während einer Performance in den Tod. Angesichts der
albtraumhaften Szenerie und derben Anzüglichkeiten mag der Begriff "sensibel" deplatziert wirken.
Doch "Schwerkraft" ist eine unerwartet sensible, respektvoll mit Leben und Sterben von Saunders
umgehende Inszenierung, die einen berechtigt kritischen Blick auf den Tanz in Köln anno 2012 richtet.
Bodytalk, die Stadtstreicher, sind kritisch, provokant, extrem - und für Köln nötiger denn je.
KLAUS KEIL, aKT 36 (Oktober 2012)